Gesundheit in der Pro-Aging-Gesellschaft

Deutschland – eine Gesellschaft der Trainer

Auf dem Fußballplatz sind Spieler über 40 eine Ausnahme – und Trainer unter 40. Auch wenn sie machmal jünger aussehen. Vor uns liegt eine Gesellschaft, die in der Mehrheit aus über 50-Jährigen besteht, die 100 Jahre und älter werden. Deutschland wird eine „Gesellschaft der Trainer“, in der der 50ste Geburtstag die Mitte des Lebens markiert.
Diese Zukunft kollidiert mit den zentralen Wertsetzungen der heutigen Leistungsgesellschaft, die sich um Schnelligkeit, Macht, Kraft, Wettbewerb und Kampf drehen. Sie stellt ausschließlich an der Jugend orientierte Alternsbilder in Frage.

Alternsbilder – eher Vinyl als CD

60-Jährige sind heute fitter, cooler und welterfahrener als je zuvor. Sie bestellen ihr Macumar im Internet und haben einen Facebook-Account. Männer 65plus dürfen skaten und Mountain-biken, Frauen gleichen Alters dürfen Rocksäume überm Knie und kirschroten Lippenstift tragen – das sind keine geringen Errungenschaften.

Das „Downaging“, der subjektiv gefühlte Verjüngungsprozess einer alternden Gesellschaft, führte jedoch auch in die Sackgasse der Anti-Aging-Kultur. Der Begriff strahlt uns tausendfach entgegen, auf Cremes, Reiseprospekten und Illustrierten. Er ist so normal geworden, dass wir nicht einmal mehr darüber nachdenken, wie wir uns selbst gegen das Alter in Opposition bringen.

Doch die in der Anti-Aging-Kultur angelegte Leugnung des Alters führt in die Irre. Stephan Grünewald vom Rheingold Institut entwirft dazu ein schönes Bild: Heute haben Menschen die Wunschvorstellung einer CD des Lebens
- man springt von Höhepunkt zu Höhepunkt,
was langweilig oder anstrengend ist, wird übersprungen. Ein Leben ohne Abnutzung, Krankheit und Tod. Früher, so Grünewald, herrschte die Vorstellung vom Leben als einer Schallplatte, die Lebensnadel sitzt in einer festen Schicksals-Rille,
man folgt den Drehungen des Lebens, dabei nutzt man sich ab und reibt sich auf. Risse und Knackser entstehen, und man weiß, irgendwann ist die Platte zu Ende.
Aber durch Reibung bringt man die Musik des Lebens zum Klingen. Die Notierung dieser Musik gilt es zu entschlüsseln und daraus eine positive Alternskultur – eine Pro Aging Kultur – zu entwickeln, die das Alter wahrnimmt, bejaht und sich nicht über die ewige Rückbesinnung auf die Jugend definiert. Denn das Alter birgt Potenziale.

Pro Aging dient nicht nur als Werbestrategie für Hautcreme

Schon seit geraumer Zeit spielen Marketing-Strategen zum Beispiel der Kosmetikindustrie mit einem Gegenentwurf, dem Pro Aging. Doch eine positiver Alternskultur hat mehr Potenzial. Wer in seinem Leben Verletzungen und Verluste erfahren hat, wer Erfolge feiern durfte, wer Lebenskrisen bewältigt hat, kann Resilienz aufbauen, eine auf eigenen Ressouren gründende Widerstandsfähigkeit. Wer einmal 60 geworden ist, hat nicht nur Lebenserfahrung, sondern auch die reelle Chance auf Lernprozesse (sie zu nutzen ist allerdings anstrengend und nicht jeder ergreift begeistert die Gelegenheit).

Eine Pro-Aging-Kultur führt zu einer gesellschaftlichen Wertschätzung von Werten, die mit dem Alter verknüpft sind: von Ruhe und Gelassenheit, also dem entspannten Umgang mit Gefühlen, von Achtsamkeit, also der Fähigkeit, die Welt mitfühlend zu erleben ohne sofort affektiv auf alles reagieren zu müssen und von Weisheit. George Vaillant von der Universität Harvard beschreibt drei Dimensionen der Altersweisheit: die Fähigkeit, die Bedeutung flüchtiger Phänomene zu erfassen, die Fähigkeit zur Reflexion, zum Einnehmen unterschiedlicher Perspektiven und die Fähigkeit, sich um das Wohlergehen anderer Menschen zu kümmern.

Wer wollte leugnen, dass Gelassenheit, Achtsamkeit, und eine solchermaßen definierte Weisheit unserer Gesellschaft wohl täte, bei dem richtigen Umgang mit der Digitalisierung oder, wenn es um eine Ökonomie geht, die sich nicht nur am Wachstum orientiert, sondern an den Bedürfnissen der Menschen. Mit dem Alter konnotierte Werte können zur Weiterentwicklung unserer ganzen Gesellschaft beitragen, sie vitaler, fortschrittlicher und innovativer werden lassen.

Der juvenile Gesundheitswahn

Eine Pro Aging Kultur setzt einen menschlichen Gegenpunkt zum juvenilen Gesundheitswahn. Wer sich gesund ernährt, ordentlich bewegt und ab und zu mal das Hirn lüftet, lebt länger und besser. Der enge Zusammenhang von Lebensstil, Lebensdauer und -qualität ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Gesundheitliche Selbstverantwortung ist Trend und Sportlichkeit ist heute ein Statussymbol.
Bis zum Extrem.

Manche meinen, sie könnten ihre Gesundheit so managen wie ein Vertriebsteam, datenbasiert, garniert mit Tortengrafik und Langzeitauswertungen. Träger von Fitness-Armbändern zeichnen Bewegungs-, Ernährungsmuster und Schlafmuster auf und werten sie aus. Es ist gar nichts dagegen einzuwenden, die eigene Leistungsfähigkeit im Auge zu behalten, das kann motivieren und der Trägheit vorbeugen. Doch das Self Tracking birgt auch Gefahren. Die Sport App kann Ausdruck der Verinnerlichung des Leistungsgedankens
in Bezug auf den eigenen Körper sein. Sie sagt uns, wie unser Herzschlag beim Sport sein sollte. Gleichzeitig, aber verlieren wir womöglich unsere Fähigkeit, unseren Herzschlag selbst zu spüren.
Gerade, wenn die ersten Zeichen des Alters auftreten, mutiert für viele das Leben zur angestrengten „Gesunderhaltungsbemühung“. So mancher befindet sich auf einem „Hardcore Health Trip“ mit hartem Sport und einer rigiden Ernährung.So begrüßenswert ein gesunder und sportlicher Lebenswandel ist, er verleitet zur Verkennung einer unumstößlichen Wahrheit: Wir können den Körper nicht austricksen und dem Tod kann auch der beste Jogger nicht davonrennen. Auch wer sich noch so anstrengt, wird den körperlich-geistigen Status quo nicht erhalten können.

Wir brauchen eine Gesundheitskultur, die den Prozess des Alterns zur Kenntnis nimmt und ihm entspricht.

Gelassene Gesundheit ist genussorientiert und ganzheitlich

Ich erlaube mir Zweifel an Konzepten, die darauf bauen, dass Menschen sich langfristig kasteien und zu etwas zwingen. Gesundheit entsteht eben nicht aus Verboten und Unterlassungen, kein Zucker, kein Fett, kein Salz, kein Essen nach 18 Uhr … Gesundheit entsteht aus Positivem, über die Verstärkung dessen, was Menschen wertschätzen und was ihnen Freude macht.

Und damit kommen wir zum Genuss. Genuss hat direkten Einfluss auf die subjektive Lebensqualität. Doch Genuss ist eine Vokabel, die in der traditionellen Medizin keine Rolle spielt. Ein genussfreundliches Gesundheitskonzept ändert u.a. das Verständnis von gesundem Essen und Trinken. Es erlaubt Koffein im Kaffee, Kohlehydrate im Bier, Fett in der Sahne und den täglichen Spaziergang statt dem Marathon. Gleichzeitig löst es das Denken in richtigen und falschen Lebensmitteln ab. Stattdessen wird das Verständnis einer gesunden Ernährung ganzheitlicher. Ausgewogenheit und Vielfalt der Lebensmittel wird zum entscheidenden Schlüssel für eine gesunde Ernährung. In unserer fleischlastigen Esskultur bedeutet das vor allem die Aufwertung von Gemüse.

Gesundheit entsteht nicht nur durch Moleküle, Medikamente und Maschinen. Der gesundheitliche Effekt der Teilnahme an einem Volkslauf geht weit über das kardio-vaskuläre Ausdauertraining hinaus. Das WIR-Gefühl und die Anerkennung der anderen wirken ebenfalls positiv auf die Gesundheit. Hinzu kommt das emotionale Hoch nach der gemeisterten Herausforderung. Aus der Glücksforschung wissen wir, eine gute Partnerschaft und Freunde, Kinder, oder auch eine erfüllende Tätigkeit tragen erheblichen zur Lebensqualität bei. Gesundheit ist ein vertrackter, körperlich-geistiger Prozess.

2012 wurde die Universitätsklinik Köln als „singendes Krankenhaus“ zertifiziert. Von der Psychoonkologie wissen wir, Krebskranke, die durch den stationären Aufenthalt auf ihre sozialen Kontakte verzichten müssen, profitierten am meisten vom gemeinsamen Singen, denn sie erfahren dadurch Gemeinschaft und Verbundenheit.
Und der Gesang stärkt die Selbstheilungskräfte der Patienten.

Gesundzufriedenheit

Das Alter ist in unserer Gesellschaft häufig negativ besetzt, es ist defizitär, gekennzeichnet von einem Mangel an geistiger und körperlicher Beweglichkeit, einem Mangel an sozialen Kontakten, einem Mangel an neuen Impulsen. Die Realität ist anders, ambivalent. Einerseits haben die neuen Alten eine völlig gewandelte Selbstwahrnehmung, fühlen sich im Alter 45plus 8 bis 10 Jahre jünger als sie sind. Doch auch wenn ältere Menschen in ihrer Masse körperlich, geistig und seelisch nie fitter waren als heute, auch wenn wir immer mehr gesunde Lebensjahre gewinnen und den Beginn von Krankheit immer weiter nach hinten verschieben, auch wenn wir immer schöner altern, bleibt Altern ein Prozess, in dem es gilt mit Einschränkungen fertig zu werden. Dem ist mit einer alters-aversiven Anti-Aging-Kultur, mit einem jugend-fixierten Wertekanon nicht beizukommen.

Das Rostocker Zentrum zur Erforschung des demografischen Wandels ist der Frage nachgegangen, was das Leben Jahre kostet. Natürlich kosten die klassischen Risikothemen viele Lebensjahre, Zigaretten, Alkohol und Falschernährung. Aber auch für eine Scheidung bezahlt man statistisch mit 3-4 Jahren. Aber das unzufrieden sein mit der eigenen Gesundheit kostet richtig Lebenszeit, Frauen 11 und Männer 14 Jahre.

In einer „Gesellschaft der erfahrenen Trainer“, brauchen wir eine Gesundheitskultur, die den Prozess des Alterns nicht ausblendet, sondern ihn zur Kenntnis nimmt und lernt, mit ihm umzugehen. Zu Beginn der 90er Jahre stellte Paul Baltes, einer der führenden Gerontologen weltweit, zu Lebzeiten bei der Max-Planck-Gesellschaft, seine Überlegungen zum erfolgreichen Altern dar. Er nannte es „SOK-Modell“, selektive Optimierung durch Kompensation und erläuterte es am Beispiel des Pianisten Arthur Rubinstein: dieser spielte im Alter weniger Stücke, schränkte sein Repertoire ein (Selektion), übte diese Stücke besonders gründlich (Optimierung) und verlangsamte sein Tempo vor schnellen Passagen so, dass die nachfolgenden Läufe im Kontrast besonders schnell wirkten (Kompensation). Gerade beim älter werden müssen Menschen lernen, phantasievoll mit ihren Schwächen umzugehen.

Wendet man diesen Prozess der individuellen Anpassung von Zielen, der Stärkung vorhandener Ressourcen und der Suche smarter Bewältigungsweisen auf das Verständnis von Gesundheit an, heißt das:
– jeder entscheidet selbst, was für sie oder ihn gesund sein bedeutet,
– jeder greift dabei auf die ihm eigenen körperlich-sozialen Ressourcen zurück
– und kompensiert Defizite mit Witz und Geschick.
Das gewünschte Ziel ist dann nicht einfach Gesundheit, sondern persönliche Gesundzufriedenheit, ein Zustand, den man selbst mag und wertschätzt. Das Konzept „Gesundzufriedenheit“ ist positiv, alterungsgerecht und authentisch, es spiegelt damit die Pro Aging Kultur.

… wenn Gesundheit kein Selbstzweck ist,
sondern angestrebt wird, um so zu leben, wie man möchte, ist vielleicht auch die bloße Wiederherstellung der Gesundheit noch lange nicht das wirklich Gewünschte …
Klaus Michael Meyer-Abich, Physiker und Naturphilosoph

Gesundheitsmärkte der Zukunft

Aus der Anti-Aging-Kultur sind ganze Alters-Vermeidungs-Industrien  entstanden, Kosmetik, Mode, Wellness, Sport … Und wahrscheinlich wird sich das Anti-Aging als Thema und Markt auch noch für die nächsten Jahre halten, denn die Industrie befriedigt damit massive Bedürfnisse.
Doch wer als Anbieter an dem Mythos der ewigen Jugend festhält, landet in der Sackgasse. Es werden neue Pro Aging Märkte entstehen, die sich um Ruhe und Gelassenheit, Achtsamkeit und das Wohlergehen anderer Menschen, Reflexion und Weisheit drehen.

Urlaub als Leerstelle

Auch Gesundheits-Urlaube spiegeln heute unsere Leistungskultur. Menschen überfrachten die schönste Zeit des Jahres mit ihren Erwartungen, führen einen Kreuzzug gegen die Langeweile. In der Folge wird leichte, leere „Frei-Zeit“ zur Belastung, zum Stress. Morgens Sonnengruß, dann Zumba, Kräuterwandern und Tai Chi zur guten Nacht.
Das Gegenprogramm dazu ist die Muse, das ziellose Umherstreifen, das Dösen und das aus dem Fenster schauen.
Der britische Journalist und Autor propagiert seit 1993 in seinem einmal jährlich erscheinenden Magazin „The Idler“ ein entspanntes Leben, das im Hier und Jetzt genossen werden will, ohne dabei von der Erwartung einer besseren Zukunft überschattet zu werden.
Wenn wir das in ein Urlaubskonzept übersetzen, entsteht das Konzept vom „Urlaub als Leerstelle“, ein Konzept, das ein Zu-sich-selbst-Kommen ermöglicht.

Wohlfühlkompetenzen statt nur Wohlgefühl

Heute mäandern Wellnessangebote um die Kernelemente Entspannung, Verwöhnung und Verschönerung. Sie werden passiven Individuen als kostspielige Services angeboten und ändern meistens – nichts.
Achtsamkeit handelt von Aufmerksamkeit und Bewusstheit, auch sich selbst gegenüber. Man spürt die eigene Befindlichkeit. Und manchmal sollten sich Dinge, was die Gesundheit anbelangt, zum Besseren verändern. Dazu sind bestimmte Kompetenzen erforderlich, man sollte wissen, wie man sich gesund ernährt, wie man genießt, wie man mehr Bewegung in den Alltag schmuggelt, wie man zwischen den Herausforderungen des Alltags und Entspannungsphasen eine wohltuende Balance herstellt, wie man seinen Geist reinigt. Zentral für ein damit angestrebtes gutes Lebensgefühl ist aber nicht ausschließlich die Vermittlung von Wohlgefühl, sondern die Vermittlung von Wohlfühlkompetenzen. Für Anbieter übersetzt sich das in die Aufgabe, Menschen dabei zu helfen, neues Gesundheitswissen zu erwerben und diese auch im normalen Alltag umzusetzen. Alltagstauglichkeit der Empfehlungen ist dafür entscheidend. Eine neue Wellness-Maxime könnte lauten: Gesundheit durch Handlung, statt Behandlung.

Das Nachdenken über das Nachdenken

Die juvenile Alterskultur verhindert Fortschritt und Reifung im Alter. „Der Wunschtraum vom ewigen Aufbruch entpuppt sich letztlich als konservatives Ideal. Er engt den Freiraum ein, neue und andere Lebensziele zu entwickeln“ so Stephan Grünewald, Leiter Rheingold Institut. Ein Indiz für das Aufkommen einer Pro Aging Kultur ist die Renaissance der Philosophie. Menschen nehmen sich wieder Zeit zur Reflexion, Zeit für die Frage nach dem Sinn des Lebens. Nach dem Erfolg von Sachbüchern, Magazin-Neugründungen und philosophischem TV-Talk gibt es in Köln auch ein internationales Philosophie-Festival. Philosophie ist endlich wieder dort, wo sie hingehört, nämlich im prallen Leben.
Auch die Beschäftigung mit den großen Lebensfragen ist Teil des Gesundheitsmarktes von morgen.